"Auf goldener Freitreppe saßen"
Versuch einer Rezension von W.A. RYLOW

Musik: Nikolai N. Dranitsyn
Gedicht: Tatjana Kalinina


Die erste Seite dieses Opus kann in die Irre führen:
Das spielerische Staccato scherzando des Frauenchors, der mit mädchenhaften Stimmen parallele diatonische Dreiklänge, Worte singt, übernommen aus kindlichem Abzählreim … was für ein versprechendes wunderbares leichtes Vergnügen nach Swiridow, Schebalin, das wir von Chorminiaturen empfinden gleichsam "Schau, welch Finsternis!..." von Tanejewsk, wo eine wunderbare Landschaft einen philosophischen Untertext umfasst.

Doch wo der Abzählreim gleichsam stolpert, entsteht eine Pause, eine zweite, eine dritte. Das Kind wird doch nicht die Worte vergessen haben? Vielleicht liegt es auch daran, dass der Zeigefinger, der sich jedes Mal in die Brust des Abgezählten bohrt, ins Leere trifft, wo soeben noch der Freund stand? Wie kann das sein? "Der Zar-Zarensohn, König-Königs-sohn…" Es erscheint die kummervolle Frage: "Was ist das – der Tod?" Das ist ein herangewachsener Knabe, der versucht, über die Grenzen des gewöhnlichen Seins zu schauen. Die Antwort ist erfüllt mit Einfachheit und weiser Ungesagtheit: Lohnt denn das? Wenn einer stirbt – seufzt ein anderer: "Auf Wiedersehen!"

„Unter nördlicher Tanne, unter lockendem Strauch
Im Land verwandter Gesichter, im Reich unhörbarer Rede…"

Unmöglich ist es, sich nicht an der wahrhaft genialen Petersburger Delikatesse des Gedichts der Tatjana Kalinina zu begeistern. Von einer solchen nichttrivialen und allumfassenden Antwort auf "ewige Fragen" konnten die besten ihrer Mitbrüder nur träumen. Natürlich, im Herzen eines Musikers wecken diese Zeilen unaufhaltsame Gegenliebe. Einem Männerchor aufgetragen, registrieren sie ein Jahrzehnt der "Tröpfchen-"Periode im Leben des Autors, einer Periode, welche die Grundrichtung des Schaffens und der Interessen des Komponisten geprägt hat.

"Aber was ist das Leben?" – der Klang des unteren Registers des Frauenchors überwältigt, denn das sind die gleichen Mädchen, die erst unlängst Klassik gespielt haben oder über das Springseil gehüpft sind! Die Männer erwidern "Leben?" mit kummervoller Verzögerung, auslaufend in einem kleinen Nonakkord, erfüllt mit Schmerz und Ausweglosigkeit. Es beginnt das schmerzhafte Wechselspiel zweier Chöre – eines Männerchors und eines Frauenchors, gleichsam die ewig gegenläufigen und gleichzeitig gleichsam ständig aufeinander stoßenden Bewegungen zweier Ansätze ausdrückend. Gleichsam nach einer langsamen Exposition begann die zielstrebige Entwicklung der Romanhandlung. Wir werden zu Zeugen einer überaus intensiven symphonischen Bearbeitung, würdig dem Temperament eines Berlioz, oder gar Opernensembles mit vielen Darstellern:
Auf goldener Freitreppe saßen wir lachend und jeder hatte etwas zu sagen.

Ja, wer hat im früher unzerrissenem Ring die Ordnung unser Plätze jetzt gestört?
Der Autor kann sich nicht abfinden mit der Zerstörung ihm teurer Ideale, mit dem totalen Verrat der eingetretenen Realität.
Es fallen die Zeilen eines anderen Poeten ein:
Verrat der Augen, Verrat von Alleen,
Verrat von Gärten, Linden und Pappeln…

Wir, die wir uns erinnern an den ständig aktiven, stets von etwas begeistertem, fröhlichen, vor Humor sprühenden Kolja Dranitsyn, können jetzt eine andere Seite seines Lebens erahnen, wo Platz für Enttäuschung und Besorgnis war …

Der Schuster sang Lieder, traurig waren die Könige… Unverhoffter Schmerz, verzweifelte Schelmerei. Auf goldener Freitreppe führten die Stufen nach oben, immer höher weg von der Erde, wo das Atmen immer schwerer fiel. Die grausame Grafik der Melodie wird ausgeglichen durch die malerische Dichte der Faktur und der Harmonie. Eine höchst dramatische Kulminierung vertreibt den kleinsten Hinweis auf die Trivialität der linguistischen Konstruktionen: Was also ist das Leben? Sieben Himmel türmen sich über einem jeden – im Norden sind sie nicht häufig blau. Auf goldener Freitreppe sind wir alle jung, wie jung, wie jung waren wir!

Es bleiben keine Zweifel, der Autor zahlte einen hohen Preis für den Erwerb von Wissen und Erfahrung. Man muss sich daran erinnern, dass das Werk aus der Feder eines Komponisten stammt, der erst unlängst die Grenze eines halben Jahrhunderts überschritten hatte (Datum der Komposition 17.02.1997). Aber, gleichsam in dem Wunsch, die Frage über das Maß der Selbstenthüllung und der lyrischen Offenherzigkeit der Komposition aufzuheben, hinterlässt Dranitsyn in der Partitur den Vermerk "Geschrieben in aller Sorgfalt zum 20-jährigen Jubiläum des Kammerchors von Sankt Peterburg". Wie kann man sich dabei nicht erinnern an den "verblichenen“ Abt Pafnuti, der die Hand aufs Herz legte" – beim Gebärdenspiel des Fürsten Myschkin? Im Schlussteil verlangsamt sich die Bewegung. Die Anmerkungen des Autors rufen dazu auf, sich nicht zu beeilen: molto meno mosso, poco parlando, sostenuto misterioso. Ein schrecklicher Riss zerteilt das Werk durch eine unvorstellbare Verschiebung um einen halben Ton von e-Moll in einen f-Moll Quartsextakkord. Einen derartigen Quartsextakkord (nur in a- Moll) hat Beethoven in einer solchen Situation in seiner 7. Symphonie verwendet. Hier entsteht die Harmonie auf dem Wort "Auf ewig"! Sofort erinnert man sich an einen anderen Nikolaj – Nikolaj Gedda, der bei einer Aufführung in seinem Gesang schon auf dem Niedergang seiner glänzenden Karriere eine von niemandem sonst erreichbare wahre Tragik herausholen konnte: "Ach, Olga, Olga, verzeih auf ewig!"
Die Zeilen von Tatjana Kalinina sind würdig der Nachbarschaft mit dem großen Vorgänger: Was also
ist das Leben? Ein Weg ohne Ende? Schneider, Könige, Schuster, Poeten?

Noch einer steigt von der Freitreppe, steigt herab auf ewig auf der Suche nach der Antwort…
Wir wissen, dass genialen Komponisten Vorahnungen und Einsicht gegeben sind. Die Oktave der Bässe und Tenöre scheint endlos, wie Schweigen, das den irdischen Weg des Künstlers unterbricht. Aufs Neue entsteht ein Abzählreim, doch jetzt ist in den Pausen keine Leere, ein Cluster aus vielen Tönen. So verschlucken Myriaden von Bakterien den auf den Boden gehenden Korpus des "Titans", so wie in galaktischen Fernen verglühende Sterne. Wir können dieser Dislokation widerstehen, indem wir immer aufs Neue die geniale Musik von Nikolaj Dranitsyn aufführen.

(Vorgelesen auf der Gedenkveranstaltung für Nikolaj N. Dranitsyn in der Kapella, St. Petersburg am 18.10.2010)
Übersetzung Dietmar Stefke, 3.11.2010