Nikolai Dranitsyn und St. Petersburg
Das Porträt eines Musikers und einer Stadt, die 300 Jahre alt wird
Von Christoph Ulrich (Schongauer Nachrichten, Ausgabe vom 16.6.2003)


"St. Petersburg und Schongau haben so viele Gemeinsamkeiten." Nikolai Dranitsyn blickt aus dem Fenster. "In beide Städte passt jedes Wetter - die Häuser sind in den selben erdfarbenen Tönen bemalt", fährt er fort, "und St. Petersburg sieht durch das wechselnde Licht zu jeder Stunde anders aus - wie hier die Umgebung, die Alpen".
Dranitsyn lebt seit 1995 als Komponist und Musiker in Schongau, ist aber zu jeder Zeit St. Petersburger geblieben. Im Juli 1946 wurde er in der Stadt an der gewaltigen Newa, die dieses Jahr ihr 300-jähriges Bestehen feiert und damals Leningrad hieß, geboren. Dranitsyn wurde, wie er sagt, geprägt von den imposanten Bauwerken an ihren Straßen und Kanälen. Mit sechseinhalb Jahren begann seine Laufbahn als Berufsmusiker in einem solchen Bauwerk: der Glinka-Knabenchorschule, in unmittelbarer Nähe zum berühmten Schlossplatz gelegen.

"Das war eine interessante Zeit", so Dranitsyn über seine Schulzeit, die er in etwa mit dem Leben eines Mitglieds des Dresdner Kreuzchors vergleicht. So beinhaltete diese Zeit zum Beispiel eine Reise nach Moskau, wo der Chor zusammen mit den Moskauer Philharmonikern mehrere Konzerte gab.

Nach zehn Jahren Chorschule wechselte Dranitsyn ans Rimski-Konservatorium. Dort schloss er im Jahr 1968 als Chordirigent ab und setzte noch ein zwei Jahre dauerndes Studium im Fach "Komposition" drauf. Danach - mit 21 Jahren - wurde er zum Militär einberufen und diente ein Jahr lang beim "Tanz- und Gesangs-Ensemble des Leningrader Militärkreises". Dort war er im Anschluss zehn Jahre lang als Orchesterchef tätig.

"Meine Aufgabe war die Begleitung von Männerchor und Tanzgruppe", berichtet Dranitsyn, der bald erkannte, dass das Musikerleben Flexibilität verlangt: "Die schönste Zeit ist die Probenperiode, in der neue Stücke einstudiert werden." Was dann jedes Jahr neun Monate folgte, bezeichnet der hochgewachsene, schlanke und mittlerweile weißhaarige Wahl-Schongauer heute als "unbezahltes Grammophon" auf Tournee durch ein Gebiet, das in etwa so groß ist wie das Bundesgebiet vor der Wende. Im Anschluss folgten Reisen über Reisen, und jeweils im November, dem Ende der Tournee wollte sich Dranitsyn "erschießen", so gleich und eintönig war das einst neue und aufregende Konzertprogramm mittlerweile geworden. Nach zehn Jahren brach er aus diesem Kreislauf aus und nahm sich ein Jahr Auszeit. Danach arbeitete er ein Jahr als Kulturreferent, dann ein Jahr als Dozent beim Ensemble des Leningrader Militärkreises. Er setzte sein Studium als Komponist fort, komponierte und arrangierte nebenbei für Theater und Film. Es folgten zehn Jahre als Musikpädagoge, davon fünf am Kulturinstitut und Musikakademie St. Petersburg.

Zu dieser Zeit wurde Dranitsyns Leben von einem schweren Schlag erschüttert: Seine Frau Irina verstarb in jungen Jahren an Krebs - sie hinterließ neben ihrem Mann zwei Kinder. Seine jetzige Ehefrau lernte er über die Musikakademie Marktoberdorf kennen, bei der 1989 erstmals der Leningrader (heute Petersburger) Kammerchor zum Wettbewerb gastierte. Bei der Gegeneinladung nach St. Petersburg wurde Dranitsyns Haus Quartier für Christine. "Ich betreute die damals mir unbekannte Frau, und", fügt er verschmitzt an, "betreue sie bis heute!" Er lacht sein für ihn typisches, sympathisches Lachen und verweist auf weitere Bilder - darauf zu sehen sind die von seiner Frau in die Ehe mitgebrachten Kinder Robert und Angela. Sie sind aufgenommen bei der Hochzeit mit Christine, die zuerst amtlich in St. Petersburg und dann kirchlich in Schongau vor genau zehn Jahren war. "Im katholischen Bayern, in einer evangelischen Kirche mit einem orthodoxen Priester aus Paris und dem Petersburger Kammerchor", zählt er auf und beweist einmal mehr seinen kosmopolitisch geprägten Charakter, den er sich nicht nur auf seinen vielen Reisen in alle Welt erworben hat.

Als Petersburger wird man quasi kosmopolitisch erzogen - wie Dranitsyn am heimischen Esstisch erzählt. Bei Kaffee und Kuchen erzählt er vom Kultur-Schmelztiegel St. Petersburg und seinen höflichen, zurückhaltenden und stets freundlichen Einwohnern. Wenn der Hobby-Fischer Dranitsyn spricht, erzählt er mit ruhiger Stimme und leichtem russischen Akzent - wenn er nicht spricht, eilt er meist durchs Haus und bringt Foto-Alben und
Bücher. Um den "Kulturschmelztiegel Petersburg" zu untermauern, bringt er diesmal eines vom russischen Schriftsteller und einstigen "New Yorker"-Kolumnisten Sergej Dowlatow, dessen Eltern Dranitsyn übrigens kannte. Darin heißt es: "St. Petersburg ist in seiner Horizontalen bestimmt von Wasser und Stein, und Edelsinn ist hier genau so üblich wie ungesunde Gesichtsfarbe, Schulden und ewige Selbstironie."

Dranitsyn erzählt weiter und es ist ihm anzumerken, wie sehr er an der Stadt hängt. Er gerät ins Schwärmen, wenn er von seinem Lieblingsplatz berichtet, der Peter-Pauls-Kathedrale und von den Kanälen, die "sein Piter", wie er es liebevoll nennt, den Ruf eines baltischen Amsterdam oder eines finnischen Venedig einbrachten.

Erneut bringt ein Fotoalbum: In ihm sind Bilder von Schongau und St. Petersburg. Aufgenommen wurden die Bilder zur gleichen Jahreszeit. Und es ist verblüffend, wie recht Dranitsyn hat: St. Petersburg und Schongau haben tatsächlich viele Gemeinsamkeiten - das Licht auf den Bildern ist so gut wie identisch.